Das Internationale Praxisforschungsprojekt

"Wie lebst denn du? Das Narrativ des anderen kennenlernen"

ist ein weiteres Projekt der Terra Media Akademie in der Reihe „Fremde und eigene Lebenswelten wahrnehmen und verstehen lernen

Waren es zuvor beim Jugendbegegnungsprojekt „Das historische Narrativ des Anderen kennen lernen – Deutsche Jugendliche begegnen Israelis und Palästinensern“ SchülerInnen aus Gymnasien und Mittelschulen, die einen neuen Verständniszugang zum Nahostkonflikt für die  Bildungsarbeit vermittelten (Medienpaket und Film: „Wir weigern uns Feinde zu sein – Den Nahostkonflikt verstehen lernen“), so haben wir für das Praxisforschungsprojekt „Wie lebst denn Du?“ bewußt Jugendliche angesprochen, die  eine Lehre oder ein berufsförderndes Jahr (BJV) absolvieren. Denn Berufsschulen haben im Gegensatz zu Gymnasien nur wenig Möglichkeiten, ihre Auszubildenden an interkulturellen Begegnungs- und Austauschprogrammen im Ausland teilnehmen zu lassen.

Abschluss-Workshop der Gruppen aus Sachsen, Bayern und Jordanien im niederbayerischen
St. Pirmin
. Im Hintergrund das von ihnen gemeinsam gemalte Bild „Heimat


Uneingeschränkt unterstützt wurde das Projekt von den Berufsschulen, sowohl in Sachsen als auch in Bayern. Aber nur in Sachsen wurde es auch von den Unternehmen vorbehaltlos mitgetragen, um – wie es ein Betriebschef formulierte, "unseren  Azubis eine Gelegenheit zu geben, eine andere Kultur kennen zu lernen und das Thema Fremdenfeindlichkeit einmal auf eine Weise aufzugreifen, wie wir es im Betrieb so nicht angehen können." Sie stellten ihre Auszubildenden dreimal eine Woche für die Teilnahme an den Workshops in Deutschland und Jordanien frei - ohne Urlaubs- und Gehaltsabzug. In Bayern dagegen war es ungleich schwerer, überhaupt Betriebe zu finden, die dazu bereit waren.

Die Workshops „Wie lebst denn Du?“ in Deutschland und Jordanien

Was tun, um insbesondere bei Jugendlichen zu einem besseren Verständnis der „Andersartigkeit“ des Ausländers, des „Fremden“ beitragen zu können? Wie können, so fragten wir uns, im Umfeld von rassistischer Gewalt in Deutschland mit Brandanschlägen gegen Asylunterkünfte und Aufmärschen der "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (PEGIDA) Kompetenzen für ein Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft ausgebildet werden? Wie kann ein Zusammenleben gefördert werden, in dem die Unterschiede zwischen den „Kulturkreisen“ als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen werden?

Vorgespräche mit dem 15-jährigen Amir, der sich allein von Afghanistan bis nach München durchgeschlagen hat, und den Geschwistern Mohammad und Eiva, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien flüchteten

Im ersten Schritt trafen wir in den Bundesländern Bayern (München, Nürnberg) und Sachsen (Dresden) Jugendliche, die ein berufsförderndes Jahr (BVJ) absolvieren oder bereits in der Ausbildung stehen. Wir fragten die 15- bis 20-Jährigen, ob sie Interesse hätten, einmal gleichaltrige Flüchtlinge näher kennen zu lernen? Und das auf eine eher ungewöhnliche Weise: Mit Aktionen wie Tanz, Rollenspiel, Sport und HipHop? Für eine Woche gemeinsam im Bischof Benno Haus bei Bautzen / im Tagungsheim St. Pirmin bei Deggendorf? Sich dabei gegenseitig die Geschichte „Wie lebst denn Du?“ „erzählen“, auf einer „Bühne“ mit „kreativen Aktionen“, zusammen mit PädagogInnen und KünstlerInnen? Und danach dann gemeinsam nach Jordanien reisen, um dort eine andere Kultur kennen zu lernen?

Vorgespräche mit SchülerInnen im Beruflichen Schulzentrum in Dresden und den Flüchtlingen Maria aus Sierra Leone und Yara aus Syrien

Die Mehrzahl der Jugendlichen reagierte überrascht, fand die Idee „sich ohne viel Reden“ mit Flüchtlingen auszutauschen „irgendwie super“ und auch „sehr sehr geil“, nach Jordanien fahren zu können, „wo Islam und Kopftuch“ zu Hause sind.

Einige wenige, die stumm geblieben waren, erzählten uns dann, dass für sie die muslimischen „Türken, Kurden, Syrer, Libanesen“ zu „unterschiedlich“ seien, sie sich „schwer mit diesen Ausländern“ tun, besonders mit den Mädchen, die für sie „unnahbar“ und „unfrei“ sind.

Vorgespräche mit jordanischen Auszubildenden als Friseurin und Kosmetikerin im Vocational Training Center in Irbid nördlich der Hauptstadt Amman

Drei Monate später konnten wir dann mit den jeweils einwöchigen interkulturellen Praxisworkshops in Bautzen und Deggendorf beginnen - zusammen mit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften München unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Constance Engelfried. Die Workshops in Jordanien wurden in enger Kooperation mit Pfarrer Dr. Khalid Freig, Direktor der Schneller - Schule in Amman durchgeführt.

16 deutsche BerufsschülerInnen in der Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, Bäckerin, zum Zimmerer, Kfz-Mechaniker usw. sowie Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und Sierra Leone nahmen daran teil, fuhren anschließend nach Jordanien – trafen dort eine Gruppe gleichaltriger Lehrlinge, die danach zu einem Gegenbesuch nach Deutschland kamen.

Die Workshops wurden mit viel kreativem Engagement von einem Künstler- und PädagogInnen-Team  durchgeführt:

Deniz Doru, Tänzer und Choreograf (u.a. am Bayerischen Nationaltheater),
Hans Melzer, Theaterregisseur und Dramaturg ( u.a. "Goethe war ein Türke"),
Janine Gulde, Pädagogin, (u.a. Gesellschaftspolitische Projekte e.V. in München)                 
Ruzbeh Sadeghi,  Sozialpädagoge an der Schule SchlaU in München (u.a. JMD2Start)

Deniz Doru (im Bild rechts vorn) beim Einüben des „Tanzbildes“ Wer bist denn du?" Anlaufschwierigkeiten wie „Tanzen? Ich? Geht nicht“  wurden rasch überwunden – am Ende stand eine „Super – Performance
Heimat malen? Gemeinsam gestalteten sie ein 2mal 3 Meter großes Bild, über das sich alle – Deutsche, Flüchtlinge und Jordanier – besser verstehen lernen konnten. Beim Boxtraining mit Hans Melzer (im Bild hinten): k.o.- Schlagen verboten! Geübt wurden „Fairness und Disziplin, die jeden zum Sieger macht

Es zeigte sich, dass künstlerische Aktivitäten wie Tanz, Malen und HipHop nicht nur das Vertrauen bei den Jugendlichen in ihre eigene kreative Gestaltungs- und Urteilskraft förderten, sondern emotionale Prozesse freisetzten, die den Kontakt untereinander und insbesondere zu den teilnehmenden Flüchtlingen öffneten. Sie trugen auch dazu bei, Vorbehalte und Widerstände der Flüchtlinge gegenüber den Deutschen zu überwinden:

  • Interesse für die Lebensumstände von (zunächst) Fremden wurde geweckt
  • Respekt und Empathie für die  Geschichte und „Lebenswelt des Fremden“ gefördert,

    ebenso die Einsicht,

  • dass Menschen unterschiedlich, aber gleichwertig sind
  • dass es möglich ist, mit Unterschieden zu leben
  • dass man voneinander lernen und trotz kultureller Unterschiede einander Achten und sich gegenseitig helfen kann.

Die Begegnung mit einer islamisch geprägten Kultur in Jordanien wurde für die deutsche Gruppe zu einem einschneidenden Erlebnis, ebenso der Besuch des Flüchlingslagers Za'atari. Das Erlebte löste Empathie und einen kritischen Blick, beispielsweise auf Lebensverhältnisse aus, die Menschen veranlasst zu fliehen und Schutz in anderen Ländern zu suchen. Begleitet wurde die Gruppe von Abdul Rahman Alawi, der uns schon seit zwei Jahrzehnten bei Projekten im Nahen- und Mittleren Osten zur Seite steht.

Za'atari, eines der weltgrößten Flüchtlingslager im Norden von Jordanien, wurde für die deutsch-jordanische Jugendgruppe zu einer bewegenden Begegnung mit syrischen Flüchtlingen...
Unterstützt vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR, das für das Lager verantwortlich ist, sangen und rappten Deniz Doru und Fayez Issa Nimri mit Kindern und Jugendlichen, die sich dafür mit einer eigenen Performance bei der deutsch-jordanischen Gruppe bedankte...

Das Workshop–Konzept von Wie lebst denn Du? setzte auf Verstehen und Dialog, um bei aller Verschiedenheit der Kulturkreise einen demokratischen und solidarischen Umgang miteinander zu lernen. Dabei wurden Gemeinsamkeiten erfahrbar, ohne die Unterschiede zu übergehen oder zu verwischen. Interkulturelles Lernen verstehen wir dabei nicht als  theoretisches Konstrukt sondern als einen Prozess, der nur in der unmittelbaren, aktiven Begegnung mit dem Anderen wirksam werden kann: Damit wir die, die wir als fremd und andersartig wahrnehmen, besser verstehen und kennenlernen können.

Der gesamte Begegnungsablauf in den Workshops in Deutschland und in Jordanien wurde von uns mit zwei Kameras dokumentiert, ebenso das umfangreiche Kultur- und Begleitprogramm, z.B. der Besuch des Sorbischen Museums in Bautzen, ein Open Air Konzert in Deggendorf, Besuch der Altstadt in der jordanischen Hauptstadt Amman, Fahrt ans Tote Meer, Besuch einer Moschee und von Ausbildungsbetrieben in Amman.

1. Reihe von links: Fayez, Firaz, Hadeel, Marah, Lawrence, Mousa.
Dahinter Yesan und Noor

Die begleitende Forschung

Wie lebst denn Du? wurde von Prof. Dr. Constance Engelfried, Maya Ostrowski, Maria Mayr und Stella Frank begleitet. Ziel des internationalen Praxisforschungsprojektes ist es, „im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluation des von Stefanie Landgraf und Johannes Gulde entwickelten begegnungspädagogischen Jugendmedienprojektes Wie lebst denn Du?... Daten für die Wirkung Sozialer Arbeit im interkulturellen Kontext zu gewinnen." Das Team der Münchner Hochschule bearbeitet die Forschungsfrage: „Sind Einstellungen, Werte und Haltungen junger Menschen durch das Jugendbegegnungsprojekt zu verändern?  Aufgabe der Forschung ist es zu klären, was erwünschte bzw. unerwünschte Effekte der pädagogischen Interventionen sind, bzw. wie und ob Wirkungen und Veränderungen beschrieben werden können. Hierzu werden mehrere qualitative Forschungsmethoden angewendet."

1. Reihe von links: Denis, Maria, Dominik, Sophie, Michelle.
2. Reihe von links: Yara, Nico und Isabelle


Das Medienpaket „Wie lebst denn Du? - Das Narrativ des Anderen kennenlernen

Das Medienpaket wird von uns im Frühjahr 2019 fertiggestellt und richtet sich mit sequenziertem Film- und didaktisch aufbereiteten Begleitmaterialien an Schulen, Berufsschulen und Träger der offenen Jugend- und Erwachsenenbildung, ebenso an Hochschulen und Einrichtungen für Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte und SozialpädagogInnen.

Modellhaft wird im Film aufgezeigt, wie mittels kreativer Interaktionen, durch Berührung, Gestik, Mimik, Malen oder Tanz interkulturelle Kommunikation gefördert werden kann. Der Film bildet diesen Verlauf des Lernprozesses und den Prozesscharakter der pädagogischen Vermittlung und subjektiven Entwicklung des interkulturellen Lernens durch die TeilnehmerInnen ab.  
Wie lebst denn Du? bietet als Medienpaket für fachspezifische und fächerübergreifende Bildungs- und Erziehungsaufgaben (alle Schultypen ab Altersstufe 14 Jahre) Anregungen und Hilfestellungen, die eine pädagogische Intervention gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus im Interesse der Deeskalation und Prävention ermöglichen.

Elias im Führerhaus, obenauf Amir, Leon, Chris, Cedric,
Mohammad, Judith und Eiva


Am letzten Workshop-Tag performt die Gruppe gemeinsam ihren Rap:  (Auszug)

... aber der Tourischeiß ist jetzt vorbei,
wenn ich was gelernt hab ist es Menschlichkeit,
nicht nur Sehenswürdigkeiten und gutes Essen,
wir sind mit 80.000 Syrern in einem Camp gesessen (boah)
wir haben viel gesehen, wir haben nachgedacht,
wir haben eine Sache klargemacht:
Fremde sind nur Freunde,
die wir noch nicht kennengelernt haben ....